Halbtagsseminar

Gefährdete Demokratie – ein historischer Vergleich

Donnerstag, 1.6.2023, 9.45 bis 12.30 Uhr

Bildungshaus Batschuns

Meinrad Pichler

 

Von diesem brisanten Thema unserer Gegenwart fühlte sich eine sehr große Zuhörerschaft angesprochen. Zunächst stellte Meinrad Pichler aber fest, dass nicht die Demokratie an sich gefährdet sei, sondern dass sich in Österreich zunehmend eine „Demokratieverdrossenheit“ (Oliver Rathkolb) oder Demokratiemüdigkeit bemerkbar mache, weil auch durch die Häufung von wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Krisen das Vertrauen in die Demokratie erschüttert worden sei.

 

Als Symptome dafür nannte der Referent die pauschale Verunglimpfung der Politiker*innen, die sinkende Wahlbeteiligung, die Abnahme der politischen Aktivitäten („Zuschauerdemokratie“), den Zerfall der politischen Mitte sowie die Krise der mächtigsten Medien. Die Nachkriegsgenerationen haben nicht die Notwendigkeit des Konsensdenkens erfahren und zeigen signifikant weniger Wertschätzung und Dankbarkeit für inzwischen Selbstverständliches (Gesundheits-, Bildungssystem, Kulturangebot, Infrastruktur, Arbeitnehmerrechte uä). Eine Folge sei die wachsende „Unleidlichkeit“ sowie Hass und Häme in anonymen sozialen Netzen, aber auch das Fehlen von Respekt im politischen Diskurs. Ein besonders gewichtiges Symptom sei – wie auch in der Vergangenheit – die strikte Ablehnung von Veränderungen, die sich im Großen (Globalisierung, Gesundheitsthemen, Migration) wie im Kleinen (Aufregung über das Gendern, bei Änderung von Straßennamen) manifestiere und in einer Nationalstaat-Nostalgie gipfle.

 

Demokratiefeindliche Entwicklungen zeigen sich in Ungarn, Polen, Israel, Türkei und auch den USA - vor allem im Angriff auf die unabhängige Justiz und den Abbau der freien Presse (indem Zeitungen verboten oder verkauft und ausländische Medienkonzerne abgewehrt werden). Auch hierzulande wurden in der Ära Kurz Umfragen im großen Stil gekauft, Verfahren sollten einfach eingestellt werden, sogar die Forderung „Das Gesetz folgt der Politik“ (H. Kickl) wurde in den öffentlichen Raum gestellt.

 

Gefährliche libertär-autoritäre Erscheinungsformen zeichnen sich bereits ab, wenn „Bohrinseln“ im internationalen Raum für Medien und Firmen geplant werden, die uneingeschränkte Freiheit (keine Steuern, Kontrolle, Regelungen) verheißen (Peter Thiel, Sebastian Kurz in Kalifornien). Rechtspopulisten wettern gegen das politische „Establishment“, dem sie zumeist selbst angehören, und machen ihr politisches Kleingeld mit Abschottung und Ablehnung jeglicher Veränderung. Dabei hätten sie eine sehr „verdinglichte Vorstellung von Freiheit“ (Reizthemen Rauchverbot, Tempolimit, Steuern, Benzinpreis) und nützen neue Aktionsflächen für antiliberale, antidemokratische bis rechtsextreme Botschaften. Erschütternd ist das Ausmaß des Hasses gegenüber Frauen (Politikerinnen), die durch unflätige Beleidigungen auf Plattformen eingeschüchtert und sogar bedroht werden.

 

Historische Vergleiche zeigen die Bedeutung von Demokratie als Ausgleichssystem von Interessen sowie der gerechten Allokation von Ressourcen. Als Beispiel führte Meinrad Pichler die Rolle der Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg aus, als die demokratie- unerfahrene Gesellschaft zu Konsens und Kooperation angeleitet werden musste, verbunden mit den Zukunftsaussichten durch den Marshall-Plan. Auch die immerwährende Neutralität Österreichs wurde auf deren Veranlassung ausgearbeitet und angenommen.

 

Die Schwächung des Ausgleichsprinzips (jeder Mensch ist gleich vor dem Recht) hatte zuvor fatale Folgen gezeitigt (Klassenjustiz in der Zwischenkriegszeit). Die fortschrittliche Gesetzgebung der Regierung Renner und Jodok Fink 1919/1920 war schon nach wenigen Jahren ausgehebelt worden. Die Zerschlagung der parlamentarischen Demokratie im Ständestaat 1934 und das verschleiernde Schlagwort vom „Untergang Österreichs“ müssen den Christlichsozialen angelastet werden.

 

Im zweiten Teil des Referats sensibilisierte der Referent die Zuhörerschaft wieder für gegenwärtiges Handeln. Anhand vieler Beispiele aus Vorarlberg und der Welt zeigte er die Gefahren der „politisierenden Wirtschaft“ auf und wie fatal die Auswirkungen waren/sind, wenn keine klare Grenzziehung zu rechtsextremen populistischen Parteien gezogen, wenn zu wenig Integrationsbemühen erkennbar wird und Zugewanderten unnötige Hürden auferlegt werden. Vor allem die Privatisierung vieler Lebensbereiche und öffentlicher Leistungen muss sehr kritisch gesehen werden (Privatschulen, Privatpraxen, Emissionshandel, Wasserrechte).

 

Meinrad Pichler schloss seine Ausführungen mit der Überzeugung, dass Demokratie „ein demokratisches Narrativ mit historischem Fundament“ brauche und der politische Anstand als „Leitplanke der Demokratie“ (Armin Thurnher) gelten müsse.

 

 

 

Edith Lutz

Team ALTER-nativ